Unterschiede unterscheiden

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Wir sind alle homo sapiens. Homo sapiens zeichnen sich u.a. durch ihre enorme Unterschiedlichkeit und Vielfalt aus. Kein menschliches Exemplar gleicht dem anderen vollkommen, und doch gehören alle lebenden Menschen nachweisbar zu derselben Spezies. Das finde ich wunderbar.

Auch das Fühlen, Denken und der Umgang mit dem Anderssein, dem Anderen oder mit Anderen, kann sehr unterschiedlich sein. Wie gehen wir mit solchen Unterschieden im Unterscheiden angemessen um?

Ich schlage hier eine Unterscheidung vor, die mir nützlich zu sein scheint, um mich angemessen zu positionieren und zu verhalten:

(A) Fremdeln gegenüber dem Andersseins/dem Anderen/“den“ Anderen.
Ein Gefühl des Fremdseins, des sich Fremdfühlens das ich für „normal“ halte.

(B) Ressentiments gegenüber dem Anderssein/dem Anderen/“den“ Anderen.
Gefühle, Gedanken und Umgangsweisen, die mich daran hindern das Anderssein/das Andere/die Anderen in seinem/ihrem so sein wahrzunehmen und zu entdecken. Eine Möglichkeit also, die eigene Entwicklung einzuschränken oder zu blockieren. 

(C) Rechtfertigungsideologien für Gewalt gegen das Anderssein/das Andere/“die“ Anderen.
Beispiele: Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Faschismus, Stalinismus, religiöser Fundamentalismus, Nationalismus.

Ich nehme an, die Nichtbeachtung oder Nichtwürdigung von (A) und (B) begünstigt eine Entwicklung hin zu (C).

Eintauchen in Gefühle – Empathie

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…DER GRÖßTE GENUSS BEIM MUSIZIEREN?

„Das ist für mich das Eintauchen in Gefühle, Geschichten, Abenteuer, die zwar im Kopf eines anderen Menschen entstanden sind, der in einem komplett anderen Leben, oftmals in einer anderen Zeit und Welt, zuhause war — und dann zu erleben, wie ich durch die Musik meine eigenen Erlebnisse und Gefühle verschmelzen lassen kann mit denen des Komponisten oder der „Menschheit“ allgemein.
Meine Hoffnung und eben auch manchmal größte Erfüllung ist, dass ich es schaffe, durch mein Spiel auch den Zuhörern ein ähnliches Erlebnis zu ermöglichen, dass jemand im Publikum für einen Moment Empathie mit der Menschheit und „Aufgewühlt – Werden“ zulässt, die Musik an sich heranlässt.“

Tanja Tetzlaff (Cellistin)

Mysteriöse Welten (Salman Rushdie)

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„Aber was mein Vater, der sich nie dem Gras hingab, an besonderer Stelle auf dem Sims aufbewahrte, war etwas viel Selteneres, etwas Legendäres, nahezu Okkultes. ‚Afghan Moon‘, sagte mein Vater. ‚Wenn du das nimmst, öffnet sich das dritte Auge in deiner Zirbeldrüse, mitten auf deiner Stirn, du wirst hellsichtig, und nur wenige Geheimnisse bleiben dir verschlossen.‘

‚Warum hast du es dann nie genommen‘, fragte ich.

‚Weil eine Welt ohne Mysterien wie ein Bild ohne Schatten ist‘, sagte er. ‚Du siehst zu viel, und es zeigt sich dir nichts‘.“

(Salman Rushdie, Golden House, S.42)

Wir nähern uns dem Fremden, indem wir seine Ferne grüßen

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 Ich bin sprachlos, verwirrt. Da sitzt diese kompetente, toughe Kollegin vor mir, wir arbeiten gut und  gerne zusammen, und die kulturellen Unterschiede schienen nach einiger Zeit doch nicht so groß. Jetzt das. Unvermittelt hebt sich ein Vorhang, gibt den Blick frei auf eine ganz andere, sehr fremde Gefühlswelt.

img_1772Eine Welt, in die ich mich nur schwer einfühlen kann, und doch berührt mich dieser Moment, bleibt mir im Gedächtnis. Durch die Tränen hindurch spüre ich einen Augenblick lang ein fremdes Erleben und erkenne, im selben Moment, mein eigenes Erleben als kulturell konstruiert: all die Emotionen, die mir so vertraut und selbstverständlich erscheinen, können, versetzt in eine andere kulturelle Umgebung, einen anderen Kontext, bedenklich ins Wanken geraten.

Topos des Fremden

Wir nähern uns dem Fremden, indem wir seine Ferne aushalten, schreibt Bernhard Waldenfels  in „Topos des Fremden“.  Ob wir nun in die Ferne reisen, oder ob wir in die Ferne fliehen, ob wir das Fremde in der Nähe suchen, oder ob das Fremde zu uns kommt – Wir nähern uns dem Fremden, indem wir seine Ferne aushalten. Alles andere ist Kitsch.

 Annäherung gelingt, wenn du es dem Fremden erlaubst, mit dir zu machen, was das Fremde eben mit dir macht: in dem einem Moment beflügelt es dich, in dem anderen läßt es dich wanken. Das Fremde zieht an und stößt ab, es  fasziniert und macht Angst, und manchmal graust es dich. Das Fremde ist gleichzeitig fern und ganz nah. Das Fremde bleibt mehrdeutig und unverfügbar. Das Fremde  kann dich tief hinab stürzen in deine eigenen Ängste, aber genau so gut kann es dich heraus katapultieren aus Stumpfsinn und Lethargie. In jedem Fall wirft das Fremde dich auf dich selbst zurück, auf das Fremde in dir. Angstlust. Die Fremdheit, das Fremdeln, ist eine Mischung aus Faszination und Angst.
 Du willst dich sicherer fühlen? Dann brich auf, zieh aus, steig über die Mauer, reiß die Wände ein, verlier das rettende Ufer aus den Augen, spring über die Schatten, die Feuer, verlier dich im Ungewissen. Geh durchs Chaos bis ans andere Ufer. Ohne Irritation kannst Du das Neue nicht entdecken. bleibst du ein  Gefangener deiner Ängste.

Mit etwas Glück kehrst du aus der Begegnung mit der Fremdheit als jemand zurück, der mit sich selbst ein wenig vertrauter ist.

Wir nähern uns dem Fremdem, indem wir seine Ferne grüßen.

Heimat ist ein Gefühl

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Heimat ist das Gefühl, das sich einstellt, wenn du dich in einer dir vertrauten Umgebung bewegst, selbstverständlich und ohne große Anstrengungen.

Umgebungen können sein: Eine vertraute Beziehung/ eine Gemeinschaft/ eine Sprache, in der du aufgewachsen bist, in und mit der sich deine Gefühle und Gedanken formten/ eine Tätigkeit, mit der du dich auskennst/ eine Weltanschauung, mit Hilfe derer du dich in der Welt orientieren kannst/ ein Ort, wo deine Wurzeln liegen/ ein bestimmter Lebensstil.

Heimat, sagt der Psychoanalytiker D.W. Winnicot, sei where we are coming from. Der  jüdisch-deutsche, aus Ungarn stammende Theatermacher  George Tabori antwortete auf die Frage, was denn seine Heimat sei, ein Bett und ein Buch, das genüge ihm.

Bedrohliche Fremdheit – Japanische Gesänge

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Momentaufnahmen, subjektiv erlebt, flüchtig notiert, sind nichts weiter als winzige Ritzen, durch die wir die eigene Wirklichkeit erkennen. Im besten Fall erfährt der Reisende in der Fremde etwas mehr über sich selbst. Ich kann gar nichts sagen, weder über Musik noch über dieses liebenswerte Land Japan, in dem sich die Herzen so vieler Reisender öffnen. Erleben ist immer subjektiv, und eine Vielzahl anderer Erlebnisweisen ist möglich.

 5. Juli 2017. Tsukuba, Japan. Weltkongress für Musiktherapie. Festliche Einführungsveranstaltung. Freundliche Grußworte, dann tritt eine traditionelle japanische Combo auf die Bühne. Endlich Musik! Etwa zehn Musiker/ -innen sitzen ordentlich aufgereiht auf der Bühne, Blick ins Publikum, in ihrer Mitte eine kleine zierliche Dame in blauem Gewand. Erwartungsfrohe Stimmung. Trommeln. Urplötzlich ein – ja was denn? – schriller, archaischer Schrei, ein helles Dröhnen, die zierliche Frau hat den Mund geöffnet, eine hohe Kinderstimme blastert, mit der Kraft 12 röhrender Hirsche, in den Raum, trifft mich, als gelte es mir persönlich, mitten ins Gefühl. Solarplexus. Shut down. Erstaunen pur. Alle meine emotionalen Erwartungen – Gesang!? – zerplatzen in einer Supernova, lösen sich auf in einem Gewitter aus Fremdheit.

Der Ton scheint tief aus der Erde unter Tsukuba zu kommen, ein nie vorher gehörter vulkanischer Ton, für den mir die Begriffe, die Worte fehlen. Schlagartig wird mir bewusst, wie vollkommen subjektiv und kulturell vorgeprägt meine Hörweise ist, und welche Vielzahl anderer Hörweisen es geben muss, die ich nicht kenne. Ich jedenfalls höre einen gurgelnden, rollenden, donnernden und schmerzgetränkten Laut, ein mächtiges kindliches Brüllen voller archaischer Aggression.

Dieses „Gebrüll“, diese Musik ist so, klingt so fremd! Begrüßt man so Gäste? Da haben sie uns freundlich eingeladen, und jetzt zeigen sie uns, was sie mit uns machen könnten, wenn wir nicht brav sind, schießt mir durchs Hirn, im Kopf die Bilder japanischer Armeen, Pearl Harbour, das Nanjing-Massaker.
Applaus, eher verhalten. Die kleine blaue Dame springt auf – diese Bewegungen, so elegant, präzise und leicht, wie machen sie das nur – lächelt, die Stimmung komplett gedreht, lacht strahlend, animiert ein Liedchen zum Mitsingen, der Saal entspannt sich, Freude und Harmonie erfüllen den Raum. Die zierliche Dame sagt, in beiden Liedern gehe es um Harmonie, Frieden und Zusammenarbeit. Großer Schlussapplaus. Die Performance hinterlässt mich befremdet, verwirrt. Lost in Astonishment.

Gut, Missverstehen und Verwirrung bilden im interkulturellen Kontakt die Regel. Aber diesen kurzen Moment der Fremdheit erlebte ich als, ich zögere, das Wort zu benutzen, extrem bedrohlich. Eine starke musikalische Erfahrung. Eine Erfahrung, die ich so vielleicht nur in der Musik – die sich für mich nicht wie „Musik“ anfühlte – machen konnte.

Ich bin dankbar für diese Erfahrung. Fremdheit hat so viele emotionale Facetten, aber sie kann auch bedrohlich wirken. Ich bilde mir ein, etwas besser zu verstehen, wie es Menschen, die jetzt zu uns flüchten, manchmal unter uns ergeht. Bedrohliche Fremdheit. Natürlich ähneln sich Menschen. Wir sind uns ähnlicher, als wir vermuten. Aber neigen wir nicht (jedenfalls viele von uns) in unserem Bemühen um Verständigung und Harmonie, mit den besten Absichten, zum Verniedlichen kultureller Unterschiede? Könnte es sein, dass Nicht-wahr-haben-wollen und Verniedlichen von Unterschieden das Gegenteil dessen hervorbringen, was wir erträumen? Die Gräben der Fremdheit unter den Menschen sind tief, und je näher wir uns kennenlernen, desto deutlicher erkennen wir, wie wenig wir voneinander verstehen. Unterschätzen wir die Herausforderungen, die echter Kontakt und nachhaltiger Austausch mit sich bringen? Was bedeutet das in einer Welt, die immer näher zusammenrückt. Musik könnte ein verbindender Rahmen sein, in dem wir Unterschiede erleben und zulassen können.